Leseprobe Cupids Fluch
Prolog
Die erste Explosion hallte noch durch den Metrotunnel, als die zweite mich von den Füßen riss. Ein hoher Piepton summte in meinem Ohr, während meine rechte Wange auf eine schmutzige Fliese gepresst wurde. Vor mir stolperte eine Sklavin mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Rolltreppe, weg von dem Chaos aus Staub, Steinen und Blut. Ich stöhnte, setzte mich auf und bereute es sofort. Es brauchte einen Moment, bis das doppelte Bild vor meinen Augen wieder zu einem verschmolz. Neben meinen Turnschuhen schaute eine leblose Hand unter dem schweren, goldenen Kronleuchter heraus, der vor wenigen Sekunden an der hohen Decke der Metrostation gehangen hatte. Hätte mich der junge Mann in Lederjacke eben nicht so unfreundlich umgestoßen, wäre ich das gewesen.
»Iwan!«, schrie ich, aber hörte meine eigene Stimme nicht. Hustend stand ich auf und tastete auf meiner staubigen Wange nach der warmen Flüssigkeit, die aus dem Ohr lief. »Iwan!«
Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und drehte mich hektisch um. Fast verlor ich dabei das Gleichgewicht. Trotzdem versuchte ich in der fliehenden Menschenmasse aus Sklaven seinen blauen Mantel auszumachen. Wie sollte ich einen Zehnjährigen zwischen all den Erwachsenen entdecken? Panik schnürte mir den Brustkorb zu und mein Herz stolperte unter den Rippen. Alles, bloß nicht Iwan! Wenn er während der Sklavenrebellion starb, würde ich mir das nie verzeihen.
Der Schlüssel an dem Band um meinen Hals brannte auf der Haut und erinnerte mich daran, dass ich über eine andere Möglichkeit verfügte, ihn zu finden. Mit zitternden Fingern umfasste ich den Magiefokus und das scharfkantige Metall bohrte sich in meine Handfläche. Ich dachte an das Gefühl von Regentropfen auf den Wangen, den Geruch von nasser Erde, an den Sarg, vor dem Mama, Nikolaj und ich gestanden hatten. Der Kummer floss durch meinen Körper. Schnell lenkte ich das Gefühl um und konzentrierte mich auf Iwan. Hinter einer weiß gekachelten Säule, die grau vor Staub war, leuchtete ein blauer Umriss. Ich stolperte vorwärts, wich einem vor Schmerz keuchenden Mann mit Bierbauch aus, dessen Fuß in einem seltsamen Winkel abstand, und fand einen zitternden Iwan vor.
»Geht es dir gut?« Ich packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, sodass Staub aus seinen dunklen Haaren auf den Boden rieselte.
Er war blass, trotzdem nickte er.
Zur Sicherheit prüfte ich ihn auf Flüche, aber der Detektionszauber blieb glücklicherweise ergebnislos. »Wir müssen weg hier, bevor die Strazh kommen!« Ich zerrte ihn an seinem Mantelärmel in Richtung Ausgang.
Iwan und ich gehörten zu den Letzten, die aus der Metrostation flohen. Die Rolltreppe brachte uns schnell nach oben und ich warf einen kurzen Blick zurück. Unter uns entdeckte ich eine Gestalt in schwarzer Lederjacke, einen grauen Kapuzenpulli tief ins Gesicht gezogen. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, die eisblauen Augen von Alexej Breschnew zu erkennen, doch im nächsten Moment machte die Gestalt einen Schritt in den Schatten einer Säule und war verschwunden. Ich musste hart mit dem Kopf aufgekommen sein. Selbst wenn die Hölle zufror, würde Alexej Breschnew niemals einen Fuß in eine Metrostation setzen – er hätte wahrscheinlich zu große Angst unfreiwillig einen Sklaven zu berühren. Außerdem hatten Zauberer wie er, die auf der anderen Seite der Sklavenrebellion standen, vermutlich diesen Anschlag verübt. Die Rache für die brennende Schuhfabrik gestern. Breschnew würde sich davor hüten, am Ort des Geschehens aufzutauchen. Ich schüttelte den Kopf, um jeglichen Gedanken an ihn zu verdrängen, und wandte mich Iwan zu. Mit einem kleinen Zauber reparierte ich mein Trommelfell, damit ich endlich wieder besser hörte, doch der Piepton blieb.
»Bist du verletzt?«, fragte ich.
Iwan schüttelte den Kopf und ich klopfte ihm den Staub vom Mantel und den Trägern seines Schulrucksacks. Er klammerte sich immer noch an sein Schulbuch über Sternenstaubmodifikationen. »Ich will die Metro nicht mehr benutzen.« Er schluckte.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber trotz allem ist das gerade die sicherste Art, sich in der Stadt zu bewegen.« Mit einem großen Schritt verließ ich die Rolltreppe und bugsierte Iwan vor mir durch das Drehkreuz, hinaus in den kalten Sankt Petersburger Frühlingsabend. In der Ferne ertönte die Sirene eines Rettungswagens. Leider war ich mir sicher, dass er nicht wegen der Sklaven kam, die einige Dutzend Meter unter unseren Füßen im Schutt begraben lagen. Ein Regentropfen traf meine Wange und lief hinunter wie eine Träne.
»Wann hört das auf, Irina?«, murmelte Iwan.
»Ich weiß es nicht.« Mit einem Zauber schirmte ich uns vom Regen ab. »Ich weiß es nicht.«
1. Kapitel
Zehn Monate später
Ich wischte die feuchten Handflächen an meiner Strumpfhose ab und rutschte auf der Holzbank hin und her. Zum hundertsten Mal schaute ich auf mein Astrolabium, das ich von meinem Vater geschenkt bekommen hatte. Einer der wenigen Fälle, in denen eine Uhr praktischer gewesen wäre. Planeten bewegten sich zu langsam, um ihnen beim Umrunden der Sonne zuzusehen. Mein Hals kratzte, aber ich traute mich nicht, im Gerichtssaal zu trinken. Stattdessen versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass das Schlimmste vorbei war. Ich hatte jede Anschuldigung, jede Zeugenaussage gehört und selbst ausgesagt. Trotzdem saß dieser arrogante Arsch da und äußerte sich – genau – nicht. Als ob wir seiner Worte unwürdig wären, als ob wir auf der Anklagebank säßen. Vielleicht sollte ihm jemand eröffnen, dass seine Seite die Sklavenrebellion verloren hatte.
»Ich frage Sie noch mal, Herr Breschnew, haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?« Auf der schwarzen Robe des vorsitzenden Richters prangte das grünblaue Zeichen der Vereinten Gesellschaften Europas. Es bildete einen Kontrast zu der dunkelbraunen Holzvertäfelung des Gerichtssaals.
Für den Bruchteil einer Sekunde spannte Breschnew seinen Kiefer an und hob das Kinn einen Fingerbreit mehr, als notwendig gewesen wäre. »Nein.«
Meine Atemfrequenz erhöhte sich und ich grub die Fingernägel in die Oberschenkel, bis der Schmerz mich in den Moment zurückholte, anstatt mich auf das Keuchen des Reporters neben mir und den Gestank nach kaltem Zigarettenrauch zu konzentrieren. Meine Therapeutin wäre enttäuscht. Allerdings würde sie darüber nie ein Wort verlieren, sondern nur leicht die Oberlippe kräuseln. Aber das war eine Sorge für später. Gleich hätte ich es geschafft.
»In diesem Fall –«, hob der Richter an.
»Einspruch!« Der Anwalt, der direkt neben Breschnew saß, sprang auf. Er war bis jetzt der Einzige der drei Anwälte, der sich überhaupt geäußert hatte.
Breschnews Blick warf gefühlt Filetiermesser auf ihn, eine der wenigen Reaktionen am heutigen Verhandlungstag. Auch die letzte Woche hatte er meist wie eine Statue dagesessen, das Gesicht wie in Eis gemeißelt. Ein Zuschauer in seinem eigenen Prozess. Wie konnte ihn das alles so kaltlassen?
»Ich werde nichts sagen«, zischte er.
Ignorant. Er hatte jede Strafe verdient, aber wie dumm – oder wie stolz – konnte man bitte sein? Wie viel schlimmer konnte es für ihn kommen? Egal, sollte er doch für seine Vergehen im Gefängnis verrotten.
»Ich muss mich entschuldigen, Euer Ehren, meine Pflicht als Verteidiger verlangt es, meinen Klienten gegen die Vorwürfe zu verteidigen – selbst gegen seinen Willen«, sagte der Anwalt.
Breschnews Oberarmmuskeln spannten sich unter dem dunkelblauen Anzug an, der silberne Siegelring an seinem kleinen Finger blitzte im künstlichen Licht gefährlich auf. Er hatte ein weißes Hemd ausgesucht. Die Sklavenfarbe. Wie respektlos. Auch wenn ich zugeben musste, dass es ihm unverschämt gut stand. Ich sah das Titelbild und die Schlagzeile schon vor mir: »Russlands attraktivster Verbrecher wird verurteilt.«
»Ich beantrage die sofortige Entlassung meines Anwalts.« Seine Stimme war hart und kühl wie Stahl. Sie klang so unbeteiligt, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.
Der Richter schüttelte den Kopf. »Herr Breschnew, ein neuer Anwalt müsste sich durch Tausende Seiten von Prozessakten arbeiten. Dem Antrag wird zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens nicht stattgegeben.«
»Ich verzichte auf einen Anwalt.« Breschnew verengte die Augen, eine Sehne an seinem Hals zuckte.
Ein Raunen fuhr wie eine Schockwelle durch die Menge an Schaulustigen, die es geschafft hatten, sich einen der wenigen Plätze im Gerichtssaal zu sichern. Die Reporterin neben mir kritzelte wie wild auf ihrem rosa Schreibblock herum. Ein Flamingokugelschreiber, wie originell. Doch gut genug, um mein rasendes Herz vom Explodieren abzubringen.
»Herr Breschnew, in Ihrem Regime mag es vielleicht üblich gewesen sein, das Recht nach Ihrem Willen zu beugen, jetzt unterstehen Sie aber dem internationalen Gericht von Den Haag. Die Prozessordnung sieht keinen Anwaltswechsel zu so einem späten Zeitpunkt vor und dabei bleibt es. Herr Petrow, fahren Sie bitte fort.« Der Richter machte eine wedelnde Handbewegung in Richtung des Anwalts.
Dieser fokussierte die Richter und ignorierte den Todesblick seines Mandanten. »Ich möchte mit Ihnen Erinnerungen meines Klienten teilen, die sein Verhalten während der Sklavenrebellion in einem neuen Licht erscheinen lassen. Ganz besonders seine Handlungen am 13. Juni und die Tötung der widerständischen Zauberer in der Zaubererschule in Bratsk.«
»Nein!« Breschnew sprang auf und zerrte an dem schwarzen Robenärmel seines Anwalts, um ihn dazu zu bewegen, sich zu setzen.
Sofort waren zwei Wächter zur Stelle und rissen den Angeklagten wieder auf den Platz. Ein dritter hinter ihnen umklammerte seinen Magiefokus und streckte die andere Hand aus. Sie leuchtete leicht bläulich, aber der Wächter zauberte nicht. Stattdessen strich Breschnew sich unsichtbaren Staub von seiner rechten Schulter und richtete den Knoten an seiner Krawatte, als wäre nichts geschehen.
Ich fragte mich, wo die Wächter wohl den gleichen Sternenstaub versteckt hatten, mit dem die Wände modifiziert waren, damit sie den Zauberbann umgehen konnten, der auf dem Gerichtssaal lag. Ein Amulett? Es musste irgendetwas sein, das nicht so leicht gestohlen werden konnte.
»Herr Breschnew, Sie haben Ihren Anwalt zur Vertretung Ihrer Interessen ausgewählt. Lassen Sie ihn seinen Job machen«, sagte der Richter.
Ich rutschte erneut auf der harten Holzbank hin und her und war überzeugt davon, dass nichts meine Meinung über Alexej Sergejewitsch Breschnew ändern würde.
Der Anwalt räusperte sich. »Ich beantrage die Hinzuziehung eines Gutachters für Erinnerungen. Frau Professor Schmidbauer von der Humboldt Universität zu Berlin hat sich vor diesem Gericht einen Namen bei anderen Verfahren gemacht, wenn ich so frei sein darf, sie als Expertin vorzuschlagen.«
Der Richter legte eine Hand an das Kinn. »Eine Extraktion der Erinnerungen stellt einen fundamentalen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen dar. Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass ein solch drastisches Mittel nur im äußersten Notfall zur Verteidigung eines Mandanten eingesetzt werden darf. Sollte der Eingriff ungerechtfertigt sein, hat die Strafverteidigung die juristischen Konsequenzen persönlich zu tragen.«
»Euer Ehren, ich bin mir der Konsequenzen bewusst, sehe aber diese Erinnerungen als essenziellen Baustein in der Verteidigung meines Klienten an«, sagte der Anwalt.
Das blasse Gesicht von Breschnew verlor noch mehr an Farbe, seine Haare wirkten dagegen rabenschwarz, ohne den leicht bräunlichen Schimmer, den sie sonst hatten.
Der vorsitzende Richter musterte ihn eindringlich, bis ein behäbiger, keuchender Gerichtsdiener ihm einen Zettel reichte. Einen Moment studierte der Richter die Mitteilung und blickte dann zum Anwalt.
»Nun gut, Herr Petrow. Sie scheinen sich sicher zu sein. Ich gebe dem Antrag statt. Professor Schmidbauer ist gerade bei einem anderen Verfahren und kann danach hier tätig werden.« Er vollführte eine Handbewegung und der Gerichtsdiener zwängte sich durch eine hölzerne Seitentür nach draußen, auf der der Kopf eines Wasserdrachen prangte.
Breschnews Lippen bewegten sich.
»Lauter, Herr Breschnew, wir haben Sie nicht verstanden«, sagte der Richter.
Wenn er mich beleidigt hatte, war er immer unüberhörbar gewesen. Weißling, Magiedieb oder Sklavenkind waren noch die netteren Bezeichnungen gewesen, die sich mit der Zeit verschärft hatten. Doch die Erde hatte sich weitergedreht. Ich lächelte leicht. Das war die Genugtuung, auf die ich gehofft hatte. Warum ich überhaupt wertvolle Lernzeit verschwendete, um hier wieder und wieder in diesem Gerichtssaal zu sitzen anstatt zu Hause am Schreibtisch.
»Ich werde aussagen. Aber nur vor Ihnen.« Breschnews eisblaue Augen trafen meine und das Lächeln fiel von meinem Gesicht wie die Schneeflocken draußen vom Himmel. Einen Moment lang verschwamm Breschnews Gesicht, bis nur noch seine Iriden klar erkennbar waren. Sie strahlten ähnlich intensiv wie die des Mannes, der mich damals in den Keller gesperrt hatte. In Breschnews verfluchtem Heim.
Mein Herz schlug schneller und ich bekam keine Luft mehr. Der Raum wurde immer kleiner, immer dunkler. Es wurde still. Zu still. Ein Summen in den Ohren. Nennen Sie mir fünf farbige Dinge, die nicht bedrohlich sind, zwängte sich die Stimme meiner Therapeutin durch den Stahlmantel der Panik in meinem Kopf. Ich blinzelte und japste nach Sauerstoff. Die roten Stilettos der Reporterin der New York Times zwei Sitze neben mir. Ich hörte nichts mehr. Der blaue Regenschirm, der neben dem dicken Herrn im Gang auf dem Marmorboden lag. Die Dunkelheit breitete sich weiter aus, gleich würde sie mich verschlingen. Nein, jetzt nicht! Der pinke Flamingokugelschreiber. Der Raum wurde etwas heller. Die gelben Punkte auf meinem Kleid.
Das Klopfen des Holzhammers war meine Rettung.
»Ruhe!« Der oberste Richter verengte die Augen. »Das ist mein Gerichtssaal und hier herrscht Stille im Publikum, meine Damen und Herren. Wenn Sie sich nicht an die Regeln halten können, bin ich mir sicher, dass ein anderer Reporter draußen vor der Tür gerne Ihren Platz einnehmen wird.«
Ich hätte eine Stecknadel fallen hören. Ohne meine Fingernägel, die Halbmonde in meine Handflächen hineinpressten, wäre ich sicher in die nächste Panikattacke geschlittert.
Der Richter musterte den Angeklagten über den Rand seiner Brillengläser hinweg. »Herr Breschnew, dieses Gericht wird Sie privat anhören.«
»Nein. Nur Sie.« Breschnew lehnte sich zurück, die breiten Schultern zurückgezogen. Wer dachte er, dass er war?
Die anderen vier Richter blickten zum obersten, dessen graue Augenbrauen so weit hochgezogen waren, dass sie fast seine fehlenden Haare ersetzten. »Das entscheide immer noch ich, Herr Breschnew.«
»Entweder Sie hören mich allein an oder gar nicht.«
»Herr Breschnew, spätestens, wenn Frau Professor Schmidbauer vor diesem Gericht erscheint, haben Sie keine Wahl mehr.«
Ein gefährliches Lächeln umspielte Breschnews Lippen und er zog sich den einen Ärmel seines Hemdes unter dem Jackett zurecht. »Ich kann Ihnen versichern, diese Erinnerungen wird niemand zu Gesicht bekommen.«